Januar 2023: Der deutsche Politiker und CDU-Generalsekretär Mario Czaja hat sich in der Debatte um die Silvester-Krawalle für eine Deutsch-Pflicht auf deutschen Schulhöfen ausgesprochen. „Es geht nicht, dass auf den Schulhöfen andere Sprachen als Deutsch gesprochen werden“, sagte Czaja. „Ansonsten entstehen schon in den Schulen Parallelgesellschaften.“
Nils Minkmar kommentierte diesen Vorschlag in seinem Newsletter: Der siebste Tag: “In unserer Familie wurde schon immer über Politik gesprochen. Morgens wurde ich von lauten Stimmen geweckt, die die Zukunft des Sozialismus, die Dekolonisierung oder neueste politische Skandale debattierten.
Und nun überlege ich seit einigen Tagen, was mir so an besonderen Tiefpunkten in Erinnerung geblieben ist, denn ein Vorschlag des CDU-Generalsekretärs geht mir nicht mehr aus dem Sinn: die Deutschpflicht auf Schulhöfen. Kinder, die in der Pause kein Deutsch sprechen, sollen ermahnt und bestraft werden, so möchte der Mann die Silvestergewalt in Neukölln bekämpfen. Je länger ich darüber nachdenke, desto bewundernswerter ist dieses Juwel von einem Januarvorschlag: von allen Seiten falsch. Ich vermute, es ist der schlechteste politische Vorschlag meines Lebens.
Es ist ein großer Vorteil, wenn Kinder mehrere Sprachen sprechen können und man soll sie bei jeder Gelegenheit dafür loben. Dabei eine Wertung vorzunehmen – europäische Sprachen top, alle anderen Flop – ist diskriminierend und unsinnig. Wer – wie es in einer Stuttgarter Grundschule geschehen ist, eine Schülerin bestraft, weil sie in der Pause türkisch spricht, hat im Schuldienst nichts verloren. Es ist nichts anderes als bürokratische Xenophobie.”
Nils Minkmar in seinem Newsletter: Der siebste Tag
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Hierzu auch eine Passage aus Olga Grjasnowas Essay “Die Macht der Mehrsprachigkeit”. Ausgehend von einem Artikel aus der Frankfurter Sonntagszeitung vom 26. Juli 2020, von Rüdiger Soldt mit dem Titel “Deutschpflicht”, über eine Schülerin, die gegen die Auflage ihrer Schule, auf dem Schulhof Deutsch zu sprechen, verstoßen hat und daraufhin eine Strafarbeit bekam, zieht Olga Grjasnowa weitere Schlussfolgerungen.
“Ich lehne mich so weit aus dem Fenster zu behaupten, dass der Artikel nicht geschrieben worden wäre, hätte die Schülerin Französisch gesprochen. Türkisch dagegen wird diskreditiert, wenn auch vielleicht nicht bewusst. Dennoch findet hier eine Abwertung der Herkunftssprache statt – und das auch noch in einem privaten Moment, nämlich beim Spielen und Sprachen während einer Unterrichtspause.
Man könnte in diesem Zusammenhang auch vom ‘Linguizismus’ sprechen – einer spezifischen Form des Rassismus, bei der Menschen, die eine bestimmte Sprache oder einen bestimmten Dialekt sprechen, diskriminiert werden, wie etwa Kurd’innen in der Türkei. Schon während der Kolonialzeit wurden Sprachen herangezogen, um die Unterlegenheit der Einheimischen zu begründen. Ihre Sprachen wurden als ‘primitiv’ abgewertet, im Gegensatz zu den ‘komplexeren’ westlichen Sprachen.
Dabei gibt es genügend historische Beispiele, die zeigen, dass es keine gute Idee ist, Kindern eine bestimmte Sprache an den Schulen zu verbieten. (…) Was all die genannten Beispeile [betreffend das Walisische im 19. Jahrhundert sowie die Bevorzugung des Englischen in den Britischen Kolonien und der Rotterdam-Code von 2006] gemeinsam haben, ist die Kränkung und Herabwürdigung ganzer Gruppen. Es ist eine Kränkung, die sich nicht so leicht vergessen lässt. Judith Butler, Philosophin und Begründerin der Gender Studies, stellt zudem fest: ‘Wenn die spezifische Kränkung, die jede_r von uns erlitten hat, sich als Teil eines Musters von Herabwürdigungen entpuppt, das im öffentlichen Diskurs reproduziert wird, und wenn sich dieses Muster zusätzlich als eines herausstellt, das eine vorherrschende Logik in Institutionen, einschließlich pädagogischer Institutionen, artikuliert, dann scheint es so zu sein, dass die Herabwürdigung nicht nur in meinem eigenen Leben Nachhall hat, sondern die soziale und politische Lebenswelt und ihrer Institutionen durchzieht.'” Soweit: Olga Grjasnowa: Lob der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt. Berlin 2021. Seite 69ff.