Sie lesen eine Passage aus Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens, aus dem Jahr 1973: “Im Seminar eine Diskussion über die Möglichkeit des Nachdichtens aus Sprachen, die man nicht oder nur sehr wenig spricht. Es scheint aussichtslos, einem Ungarn klarzumachen, dass man sich über auf ein solches Geschäft einlassen kann. Und doch liegt gerade hier die Möglichkeit einer echten Kollektivarbeit, denn die Übertragung eines Gedichtes ist ja nicht eine Sache zweier, sie ist ein Sache dreier Sprachen: der gebenden, der empfangenden und der Universalsprache der Poesie. Ein ungarisches Gedicht ist ja nicht einfach “Ungarisch”, es ist Ungarisch, und es ist ein Gedicht, und wenn das Ungarische ins Deutsche übersetzt ist, steht die zweite Übersetzung, die innerhalb des Deutschen, noch aus, und wenn sie von einem, der die Sprache der Poesie nicht versteht, zu leisten versucht wird, wird gewöhnlich auch die erste Übersetzung zerstört … Es ist dann eine Art Pidgin-Lyrisch mit Zügen von Pidgin-Deutsch …
Nein, hier ist, trotz der Besonderheit, dass diese drei Sprachen in der linguistischen Form nur zweier erscheinen, eine echte Arbeitsteilung zwischen dem Interlinearübersetzer und dem Nachschöpfer (kein gutes Wort, aber ich finde kein besseres) möglich und in gewissen Fällen, wie eben denen der Sprache kleiner Völker, sogar geboten. Es war ein Wagnis, aber es hat sich gelohnt, und es ist gelungen; ein Dogma der Nachdichtungstheorie und -praxis ist umgestoßen; wir haben hier wirklich Neuland beschritten und die Möglichkeiten sozialistischen Verlagswesens ausgenutzt, aber das alles wird fast gar nicht beachtet.
Wenn die neue Grammatik die Entstehung dessen untersucht, was sie ‘wohlgeformte Sätze’ nennt, und zur Entscheidung darüber, was in einer gegebenen natürlichen Sprache ein wohlgeformter Satz sei, einen ‘kompetenten Sprecher’ einsetzt, so sondert sie (ihr ‘kompetenter Sprecher’) aus dem allgemeinen Sprachgebrauch doch grundsätzlich etwas aus, was man als ‘poeitsche Sprache in ihrer Gesamtmöglichkeit’ bezeichnen könnte. Dies ist natürlich ebensowenig ein Einwand gegen die Transformationsgrammatik, wie der Terminus ‘poetische Sprache’ in einem nur vulgärroamntischen Sinn (‘Shön!’ – ‘So poesievoll!’ – ‘Das Herz geht einem auf!’ – ‘Das ist noch Kunst!’ usw.) auszulegen wäre. In eine solche lingua poetica gehören auch grammatikalisch falsche, ja es können auch ganz sinnlose Sätze zu ihr gehören wie etwa ‘Klauke dich Klauker!’ aus Brechts Simone.”
Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens. Rostock 1973.